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Gedenken an die Opfer gestern im Marburger Bahnhof

In Theresienstadt umgekommen

Artikel in der "Marburger Neuen Zeitung" vom 07.09.2003, von Barbara Wagner, Mitglied der Marburger Geschichtswerkstatt e. V.

 

Marburg. (wgn). "Levi Levi, Johanna Levi geborene Hattenbach, Dr. Hermann Reis, Selma Reis geborene Levi, Marion Reis, Julius Fürst ... ". Im Lärm der ein- und ausfahrenden Züge, der lauten Willkommens- und Abschiedsworte wurde am gestrigen Samstag auf Gleis 5 des Marburger Bahnhofs der über vierzig jüdischer Menschen aus Marburg gedacht, die am 6. September 1942 von hier verschleppt wurden. Der Transport ging nach Kassel und von dort weiter nach Theresienstadt. Auch 38 vor allem alter und kranker Menschen aus dem gesamten Landkreis wurden mit diesem Zug deportiert.


Auf dem Marburger Hauptbahnhof wurden auf Initiative der Marburger Geschichtswerkstatt die Namen der am 6. September 1942 aus Marburg deportierten jüdischen Menschen verlesen. Amnon Orbach sang Gedenkgebete. (Foto: Barbara Wagner)

Abfahrtszeit war in Marburg 10.16 Uhr, in Kirchhain 10.39 Uhr und in Neustadt 11 Uhr. Und so unterstrichen die das Gedenken begleitenden Durchsagen über die aktuellen Ankunfts- und Abfahrtzeiten der Züge die Normalität neben der Unfassbarkeit der damaligen Ereignisse.

Die Marburger Geschichtswerkstatt erinnert gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Marburger jüdischen Kulturgemeinde, Amnon Orbach, zum zweiten Male an diesen letzten Abtransport Marburger Juden. Die durch tiefsitzende Propagandainformationen verfälschten Vorstellungen vom Ghettos Theresienstadt versuchte der Marburger Professor Karl Braun in einem anschließenden Vortrag geradezurücken.

Katastrophale Situation
Denn die Situation in Theresienstadt war im Herbst 1942, der Zeit als die Marburger Juden dort eintrafen, katastrophal. Die Stadt war von den ursprünglichen Bewohnern geräumt worden und die dort zusammen getriebenen böhmischen und mährischen Juden hofften, die nationalsozialistische Zeit in Theresienstadt überleben zu können.

Die vorhandenen Kasernen der alten Garnisonsstadt und die Privathäuser waren bereits völlig überbelegt als aus Deutschland und Österreich tausende von vor allem alter Menschen eintrafen. Für sie blieben nur die Dachböden, Betten oder Stühle waren nicht vorhanden.

Allein in den Monaten September und Oktober 1942 starben über 7000 der Verschleppten. Die Ghetto-Selbstverwaltung versuchte, Kulturarbeit gegen die untragbaren Zustände zu setzen: Bücherei, Musikveranstaltungen und Caféhaus waren in Theresienstadt nicht Ausdruck guter Lebensverhältnisse, sondern verzweifelte Versuche, die Zustände ertragbar zu machen.

Die Nationalsozialisten nutzten das für Propagandazwecke: Theresienstadt als Vorzeigeghetto.
Ein Zuhörer des Vortrags berichtete vom Abtransport seiner Großmutter, die aus einer anderen deutschen Stadt ebenfalls nach Theresienstadt deportiert worden war. Als 16-jährige hatte er die alte Frau zum Bahnhof begleitet. Die notwendige Bahnsteigkarte habe er nicht vorweisen können. Doch der Reichsbahnbeamte zeigte in diesem Fall Erbarmen. Der verstörte Junge durfte ohne die Karte passieren.

Heimliche Sympathie
"Heimliche Sympathiekundgebungen", sie waren der einzige Widerstand, den die Nachbarn und Bekannten der Deportierten zeigten: Abschiedsbesuche, Mitgabe von Reiseproviant, das Hüten von Wertgegenständen.

Die Großmutter des Zuhörers hat Theresienstadt überlebt: Sie wurde mit tausend anderen alten Menschen gegen Lastwagen eingetauscht und gelangte so in die Schweiz.

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