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Demo am 27.01.2024 in Marburg

Marburg gegen Rechts!


Marburg gegen Rechts, Foto: W. Form

16 000 Menschen folgten dem Aufruf vom Magistrat der Stadt Marburg und zahlreichen Gruppen und Gruppierungen sich offen gegen den zunehmenden Druck rechter und rechtsextremer Bewegungen und Parteien zu stellen.

Für die Demonstration war als Termin der 27. Januar gewählt worden: der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Der Termin ist ein Zeichen, denn Geschichte sollte sich nicht wiederholen! Wir als Geschichtswerkstatt Marburg haben uns mit einem Redebeitrag an der Demonstration beteiligt. Die Rede Michael Heinys, die er mit Harald Maier-Metz verfasst hat, ist hier nachzulesen.

Rede von Michael Heiny
für die Geschichtswerkstatt Marburg e. V.

Der heutige Gedenktag ist seit 2005 der Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, verkündet von den Vereinten Nationen, in Israel schon seit 1951 begangen, in Deutschland 1996 als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus eingeführt. Warum der 27. Januar? An diesem Tag 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit.

Viele von uns kennen die Bilder der halb verhungerten Kinder, die den Soldaten der Roten Armee ihre Arme mit den eintätowierten Nummern entgegenhalten, sehen das große Lagertor von Birkenau vor sich, einen Eingang zur Hölle. An der Rampe der angekommenen Züge werden die Alten, Kinder und Schwachen ins Gas geschickt, die anderen zu Sklavenarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie gezwungen – solange sie konnten. Auschwitz ist das weltweite Symbol geworden für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik.

Deshalb gedenken wir heute der Entrechteten, Gequälten und Ermordeten: Es waren die europäischen Juden, die Sinti und Roma, die Kranken und Behinderten, die Homosexuellen, die Zeugen Jehovas, die politischen Gegner – Sozialdemokraten, Kommunisten, Pazifisten, die Männer und Frauen des Widerstands. All jene, die die völkische NS-Ideologie zu Volksfeinden erklärt hatte und gnadenlos verfolgte.

Marburg und sein Landkreis machten keine Ausnahme: Von den über 800 jüdischen Menschen, die 1933 hier lebten, wurden alle, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, in drei Deportationen verschleppt – im Dezember 1941 nach Riga, im Mai 1942 nach Lublin und Sobibor, im September 1942 nach Theresienstadt. Ihre Namen kann man an den Gedenkbändern im Marburger Hauptbahnhof lesen, nur wenige von ihnen überlebten.

Stolpersteine in der Stadt erinnern an ihr Schicksal. Im März 1943 wurden 80 Sinti – vom Baby bis zu den Großeltern – nach Auschwitz deportiert und fast alle ermordet.

Geplant, organisiert und vollzogen hatten dies Landräte, Bürgermeister, und ihre Beamten. Wer sehen wollte, konnte sehen, wie die "Ausgestoßenen" gesammelt und vom Marburger Hauptbahnhof mit der Reichsbahn abtransportiert wurden. Vorher hatte man Juden gekennzeichnet, auf das Äußerste eingeschränkt, in Ghettohäusern mitten in den Städten eingepfercht – so auch in Marburg. Sinti wurden registriert und festgesetzt.

Ausgrenzungen kamen nicht nur von oben: Schon im August 1933 organisierte die örtliche SA einen Prangerumzug, in dem der jüdische Student Jakob Spier durch die Stadt getrieben wurde, es gab einen Karnevalswagen mit boshaften Karikaturen von Juden: "Auf nach Palästina".

Es geschah in einer Stadt, die "brauner" war als andere: Marburg galt in der Weimarer Republik als "Hort der Reaktion" (Zitat). Hier wählten die Bürger schon 1932 mehrheitlich NSDAP, das waren circa 15 Prozent mehr als der Reichsdurchschnitt. Begeistert, angepasst oder widerstandslos folgten die meisten Marburger der antisemitischen Propaganda, der rassistischen Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik, der Aufrüstung für einen neuen Krieg.

Ganz vorn dabei viele Studenten, organisiert in Burschenschaften und Verbindungen, völkisch-nationalistisch, militaristisch und antisemitisch. Sie waren die Speerspitze der NS-Bewegung in Marburg, schon in der Republik, bereit zur Gewalt gegen alle, die sie für den vermeintlichen Niedergang Deutschlands verantwortlich machten.

Und nun zur Gegenwart: In Marburg gibt es solche Studenten immer noch oder schon wieder. Ich weiß: 99 Prozent der Studenten sind anders, sogar in den anderen Verbindungen. Aber die Burschenschaften Rheinfranken, Normannia Leipzig und Germania mit ihren Verbindungshäusern am Schlossberg fühlen sich als Elite der rechtsradikalen Bewegung, laden rechte Vordenker wie Höcke oder Alain de Benoist zu Veranstaltungen ein und grölen nicht nur im Suff die alten "Wolfslieder", bundesweit vernetzt mit rechtsradikalen Organisationen und Teilen der AFD.

Schon 2017 gingen am Rande eines Bundeskongresses der Jungen Alternative, der im Haus der Germania stattfand und an dem auch Mitglieder der Identitären Bewegung teilnahmen, vermummte Personen mit Schlagstöcken und Pfefferspray gegen dokumentierende Fotografen vor.

Gottfried Curio, Bundestagsabgeordneter der AFD, behauptete schon 2019 im hessischen Landtagswahlkampf in Kirchhain, der UNO-Pakt zur Migration habe "die Intention einer Umsiedlungs- und Ersetzungsmigration" und er warnte "vor der Übernahme respektive der Auslöschung des deutschen Staates durch muslimische Migranten". Es sind solche Brandstifter, die nun bereits Pläne für eine "Lösung" diskutieren.

Völkisches Denken ist menschenfeindlich und menschenverachtend. Wer im Umkreis der AFD von "Remigration" spricht, meint die Austreibung von angeblich Nichtdeutschen und Undeutschen. Diese aber sind unsere Mitbürger und Mitbürgerinnen, Nachbarn, Kollegen, Bekannten, Freunde, unsere Familienangehörigen – wir selbst.

Lernen wir aus unserer Geschichte, setzen wir uns solidarisch ein für Gleichheit und Menschenwürde. Stellen wir uns in der Wahlkabine, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft gegen diese Brandstifter und Biedermänner.

Nie wieder ist jetzt!


NIE WIEDER IST JETZT, Foto: R. Hommel

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