Gedenken an die Deportation der Jüdinnen und Juden am 6. September 1942 aus Marburg und dem Landkreis über Kassel nach Theresienstadt
Seit 2003 erinnert die Geschichtswerkstatt Marburg e.V. mit einer Gedenkveranstaltung am 6. September an die Deportationen aus Marburg und dem Landkreis.
Der 6. September wurde gewählt, da an diesem Tag die noch in Marburg lebenden Jüdinnen und Juden nach Theresienstadt verschleppt wurden. Es waren zum Großteil alte, sogar sehr alte Menschen. Zuvor waren in drei Deportationen Juden und Sinti in Ghettos, Konzentrationslager und Vernichtungsstätten verschleppt worden.
In diesem Jahr fand die Veranstaltung am Sonntag, 7. September 2025 statt. Bei dem Datum der Gedenkveranstaltung wird Rücksicht auf den Schabbat genommen.
Gedenkveranstaltung am 07.09.2025, musikalilscher Rahmen, Foto: Wagner
Auch in diesem Jahr konnten wir Gäste aus Israel begrüßen, deren Großeltern nach Theresienstadt deportiert worden waren und die ermordet wurden. Ein Gast aus Großbritannien ist Nachfahre von Marburger Geschäftsleuten.
Gedenkveranstaltung am 07.09.2025, Foto: Wagner
Gerade in Zeiten wachsener Intoleranz und der zunehmenden Verrohung des öffentlichen Diskurses ist ein gemeinsames Gedenken mit allen Religionsgruppen und den Nachkommen der Ausgegrenzten und Ermordeten von hoher Bedeutung.
Der Marburger Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies zeigte auf, wie schnell faschistisches Denken die handelnde Politik erreichen kann. p>
Die Namen der in Marburg lebenden Jüdinnen und Juden, die am 6. September 1942 deportiert wurden, trugen eine Schülerin und ein Schüler der blista, der Schule für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung, vor. Ihr Tastendes-Herangehen an die Namen ist ein schönes Symbol für die Annäherung an die oft schwer auszuhaltenden Schicksale der Deportierten.
Besser als die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer kann es nicht ausgedrückt werden:
"Ich sage, seid Menschen. Wir sind alle gleich. Es gibt kein christliches, kein muslimisches, kein jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Alles ist gleich. Wenn ihr Menschen seid, dann werdet ihr wissen, dass ein Mensch so was nicht machen würde."
Thorsten Schmeermund sang die Gebete el male rachamim in Gedenken an die Ermordeten der Shoah und das Kaddisch.
El male rachamin:
"G'tt, du bist voller Erbarmen. Wir beten für die Seelen der sechs Millionen Frauen, Männer und Kinder und allen Opfern der Shoah, die verbrannt und umgebracht worden sind.
In Auschwitz, Belzec, Bełżyce, Bernburg, Bergen-Belsen, Buchenwald, Chełmno ,Dachau, Drohobycz, Gurs, Hartheim, Lodz, Majdanek, Mauthausen, Minsk, Monowitz, Ohrdruf, Piaski, Pirna-Sonnenstein, Ravensbrück, Rawa Ruska, Riga, Sachsenhausen, Sobibór, Theresienstadt, Treblinka, Warschau.
Gewähre ihren Seelen Ruhe in deiner Nähe, im Kreise der Gerechten und Reinen. Möge G'tt, der Barmherzige, sie für alle Zeiten unter seinen Schutz stellen und sie in den Bund des ewigen Lebens einschließen. Mögen sie im Garten Eden in Frieden ruhen.
So sprechen wir: Amen!"
Gedenkveranstaltung am 07.09.2025, Foto: Wagner
Die Begrüßung zur Veranstaltung durch die Vorsitzende der Geschichtswerkstatt Marburg e.V., Elisabeth Auernheimer:
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde!
Ich freue mich sehr, Sie hier im Namen der Geschichtswerkstatt Marburg begrüßen zu dürfen. Wir gedenken der letzten Deportation von Juden aus Marburg und dem Landkreis. Gestern vor 83 Jahren fuhr um 19.10 Uhr der Zug ab Gleis 5/8 vom Marburger Hauptbahnhof nach Kassel und von dort weiter nach Theresienstadt. Die Vertreibung war weitgehend behördlich organisiert und begleitet von Entrechtung, Erniedrigung und Ausplünderung – und führte ins Elend des Ghettos – für viele in den Tod.
Die Geschichtswerkstatt Marburg hat seit ihren Anfängen die Geschichte jüdischen Lebens hier bei uns in den Blick genommen, vieles aus dem Dunkel des Verdrängens und Vergessens ans Licht gebracht und – historisch spät, aber im Vergleich zu ähnlichen Veranstaltungen sehr früh – dieses jährliche Gedenken organisiert.
Es hat seit Jahren einen festen und wichtigen Platz im Marburger Kalender, und auch in diesem Jahr werden wieder VertreterInnen des Magistrats, der Kirchen und Religionsgemeinschaften hier sprechen:
Dr. Thomas Spies, der Oberbürgermeister unserer Stadt,
Dr. Burkhard von Dörnberg, der Dekan der Ev. Kirche,
Greta Saiz von der Islamischen Gemeinde,
Thorsten Schmermund von der Jüdischen Gemeinde wird die Gebete sprechen.
Neu ist heute, dass ein Vertreter des Kinder- und Jugendparlaments, Antonin Bau, zu uns sprechen wird, das freut uns besonders.
Romy und Michael von der blista Marburg werden die Namen von Deportierten verlesen.
Sie haben soeben einen Satz aus dem Streichquartett Es-Dur von Fanny Hensel gehört. Musikalisch begleiten uns wie auch schon im letzten Jahr Elke Therre-Staal, Verena Schauer sowie Bettina Vanja- Dietrich und Joachim Dietrich.
Ich möchte die Nachkommen der Ermordeten und Vertriebenen begrüßen, mit denen wir gemeinsam gedenken. Für uns ist das natürlich der Kernpunkt, denn nur das Sich-Kennen und Respektieren kann Brücken bauen und Verständnis erzeugen. So freue ich mich besonders begrüßen zu können: Gad Nathan aus Jerusalem, Ruth und Rafi Kastner aus HodHasharon, Paul St.George aus Västra Torp in Nordschweden.
Nach der Veranstaltung im letzten Jahr kamen Vertreter der Islamischen Gemeinde auf uns zu und kritisierten – mit sehr freundlichen Worten – dass unser Einladungstext nur jüdische Opfer der NS-Verfolgungen und -Deportationen erwähne. Das könne in den aktuellen Konflikten im Nahen Osten als Einseitigkeit verstanden werden.
Wir sind sehr dankbar für die offenen Worte, zumal wir und auch die ganze Stadtgesellschaft sehr froh sein können über die positiven Beziehungen zwischen Jüdischer und Islamischen Gemeinde in Marburg, über viele auf Kooperation und Freundschaft zielende Aktivitäten der Islamische Gemeinde wie das geplante Gedenkbuch für Amnon Orbach.
So haben wir in diesem Jahr unseren Einladungstext geändert und werden nicht nur die Namen der am 6.9. Verschleppten, sondern - in wechselnder Reihenfolge - Namen der im März 1943 deportierten Sinti und die der in den beiden früheren Deportationen aus Marburg vertriebenen Juden verlesen.
Denn es geht uns ja darum, der von den Nazis gegen verschiedene Gruppen und Individuen praktizierten, vor allem auf Rassismus fußenden Ausgrenzung von Mitbürgern entgegenzutreten, die Wichtigkeit von Menschenrechten zu betonen und Menschlichkeit zu fördern. Das scheint heute wichtiger denn je, denn nicht nur in der AfD gibt es starke Strömungen, die sogenannte „Volksgemeinschaft“ vor vermeintlicher Überfremdung zu schützen, wieder Menschen als nicht zugehörig auszugrenzen. Und das Wort „Deportation“, im letzten Jahr nach den Ausführungen Sellners noch Anlass für große Demonstrationen, scheint immer mehr in den „normalen“ Wortschatz einzusickern.
Auch aus diesem Grunde ist unsere Gedenkveranstaltung wichtiger denn je. Sie braucht aber unseres Erachtens auch einen angemessenen Ort. Das war zu Beginn Gleis 5/8 im Bahnhof: Hier hatten die Vertriebenen zwangsweise Abschied von Marburg zu nehmen. Aber die Bahnpolizei meldete für diesen Ort wegen durchrasender Züge Bedenken an.
Seit einigen Jahren treffen wir uns hier – und wir sind der Waggonhalle, vor allem Matze Schmidt, für große Unterstützung dankbar.
Wir haben uns auf der Suche nach einem geeigneteren Ort im letzten Herbst an einem Wettbewerb beteiligt, in dem die Rolle der Reichsbahn bei Deportationen beleuchtet werden konnte: „memo-rails“. Wir glauben, einen geeigneten Ort gefunden zu haben hier nebenan zwischen toten Gleisen, verrosteten Schienen und vor der Silhouette Marburgs. Wir haben einige Energie darauf verwendet, Pläne für einen Gedenk- und Versammlungsort zu schaffen, der nicht nur für den 6.9. nutzbar ist. Dabei haben wir auch schon Unterstützung durch die Stadt bekommen, die teilweise Eigentümerin des Geländes ist.
Nun ist leider klar, dass unser Antrag im Wettbewerb nicht berücksichtigt wurde. Aber auf jeden Fall wollen wir die angedeuteten Pläne weiterverfolgen.
Denn unsere Zeiten von sich ausbreitender sozialer Kälte, Ausgrenzung und Hass, von Rassismus und Antisemitismus brauchen starke Zeichen, die an die damit verbundenen Abgründe erinnern. Vielen Dank!
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