Geschichtswerkstatt Marburg e.V. Forschung für Regional- und Alltagsgeschichte
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Veranstaltungen 2007Deportation vom 6. September 1942 - Jährliches Gedenken auf dem Marburger Hauptbahnhof Der sechste September als Tag des Gedenkens an die Judendeportationen vom Marburger Hauptbahnhof aus ist seit 2002 im öffentlichen Bewusstsein fest verankert. Historischer Hintergrund ist die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in der Stadt Marburg und im Landkreis unter dem nationalsozialistischen Regime in den Jahren 1933 bis 1945. Die ideologisch und rassistisch begründete Judenverfolgung, die in der sogenannten "Endlösung der Judenfrage" mündete, hatte als letzte Konsequenz die Deportation und Ermordung der gesamten auch in Marburg und im Landkreis lebenden jüdischen Bevölkerung. Die folgenden Daten markieren die Vorbereitungen zur Ermordung der Juden (zum Beispiel in dem Vernichtungslager Auschwitz) aus Marburg und dem Landkreis:
Nur wenige Einzelne überlebten. Die Idee, das Datum der letzten Deportation, den 6. September1942, zum Ausgangspunkt einer jährlich wiederkehrenden Gedenkveranstaltung auf dem Marburger Hauptbahnhof als Ort des Abtransportes zu machen, entstand in der Geschichtswerkstatt Marburg. Ein Zusammenwirken mit anderen Organisationen und öffentlichen Institutionen wird angestrebt. Die Jüdische Gemeinde in Marburg, die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, der Verein Landsynagoge Roth waren dazu bereit. Stadt und Landkreis Marburg wurden ebenfalls mit eingebunden. Der ehemalige Oberbürgermeister Marburgs, Dietrich Möller (CDU) und sein Nachfolger Egon Vaupel (SPD) nahmen und nehmen regelmäßig an der Veranstaltung teil, ebenso der Stadtverordnetenvorsteher Heinrich Löwer (SPD). Seitens der Evangelischen Kirche in Marburg hat die verstorbene Dekanin Helga Bundesmann-Lotz das Projekt von Anfang an nachdrücklich befürwortet. Der nachfolgende Dekan Helmut Wöllenstein sprach ebenfalls bei den Gedenkveranstaltungen. Das Gedenken auf dem Bahnhof wurde und wird jeweils durch einen anschließenden Vortrag erweitert. Die Vorträge haben nicht ausschließlich den Holocaust zum Thema, sondern es werden auch Geschichte, Tradition und Kultur der Juden in unserer Stadt und im Marburger Raum dargestellt. Der Hauptaspekt des regelmäßigen Gedenkens zum 6. September auf dem Marburger Hauptbahnhof ist das Wachhalten der Erinnerung an die historischen Ereignisse. Aus der Trauer um die geschundenen und ermordeten Menschen kann sich das Bewusstsein für ein verantwortlicheres Handels jetzt und in der Zukunft entwickeln. Die Deutsche Bahn zeigte sich in allen Jahren sehr kooperativ und genehmigte die Veranstaltungen. Bei der Gedenkveranstaltung auf dem Bahnsteig werden die Namen der Deportierten verlesen, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Marburgs, Amnon Orbach, hat bei einigen Veranstaltungen das jüdische Totengebet (Kaddisch) gesungen, Gedenkworte der Vertreter der beteiligter Organisationen und der Stadt Marburg und des Landkreises sind ebenfalls fester Bestandteil. Ein kurzer Rückblick: Veranstaltung 2002 Veranstaltung 2003 Veranstaltung 2004 Veranstaltung 2005 Veranstaltung 2006 Veranstaltung 2007
Rede am 6.9.2007 von Pfarrer Dr. Gernot Schulze-Wegener, Rauschenberg, Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich spreche im Namen der evangelischen Kirche in Marburg und im Landkreis und möchte mit Theodor Adorno beginnen, der in großer Eindringlichkeit und Klarheit benannt hat, worum es bei Gedenkstunden des Holocausts also auch heute Abend hier am Hauptbahnhof gehen kann und gehen muss: "Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an die Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen vorn, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen… Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug. Dass man aber die Forderung, und was sie an Fragen aufwirft, so wenig sich bewusst macht,zeigt, dass das Ungeheuerliche nicht in die Menschen eingedrungen ist. Ist Symptom dessen, dass die Möglichkeit der Wiederholung, was den Bewusstseins- und Unbewusstseinszustand der Menschen anlangt, fortbesteht. Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, dass Auschwitz sich nicht wiederhole. Es ist die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht." Soweit Adorno zu Beginn seines Essays über die "Erziehung nach Auschwitz", das genau vor 40 Jahren gedruckt wurde und nichts an Aktualität eingebüßt hat, wie die jüngsten Ausschreitungen gegen Ausländer in erschreckendem Masse zeigen. Wie es im übrigen auch die offensichtliche Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen zeigt, mit solchen Vorgängen in angemessener Weise umzugehen. Erziehung im Sinne Adornos bliebe dann keineswegs auf die nachwachsende Generation beschränkt,sondern ist als ein immerwährender gesamtgesellschaftlicher Diskurs und Lernprozess zu sehen. Man könnte es die permanente Einübung in Solidarität, Toleranz und Menschenrecht nennen, die Not tut und eingefordert werden muss, weil sie offenkundig alles andere als selbstverständlich ist. Gedenkstunden wie diese heute Abend leisten dazu einen unverzichtbaren Beitrag, weil sie an die historischen Ereignisse erinnern, die unzähligen Menschen das Leben gekostet haben und die die jeweiligen Zeugen und Überlebenden bis in die Grundfeste ihrer Existenz erschütterten, was übrigen auch für die Kinder und Enkel der Ermordeten gilt. Sehr viele sind auf Grund ihrer spezifischen familiären Biographie bis heute traumatisiert, wie jüngst erschienene psychologische Studien eindrücklich zeigen. Historische Ereignisse: Das ist die unüberbietbare systematische Tötungsmaschinerie der NSDAP und der SS, das ist das unermessliche Leid, das Deutsche jüdischen Kindern, Frauen und Männern, aber auch Sinti und Roma, politischen Gegnern, Homosexuellen Widerstandskämpfern, Kriegsgefangenen und Menschen mit einer Behinderung angetan haben; das ist die staatlich sanktionierte Verfolgung, das sind Verschleppung, Verlust der Heimat und Zerstörung der kulturellen und religiösen Identität. Barbarei, wie Adorno sagt, ohne Parallele. Es ist auch das Wegsehen derer, die davon wussten, die mit jüdischen Menschen zusammen lebten, die die Geschäfte kannten, die Synagogen haben brennen sehen auch hier in Marburg, die natürlich zur Kenntnis genommen haben, dass Juden am Bahnhof zusammengeholt wurden und warum und die wegsahen. Das Wegsehen, das Sich-Ducken, das Schweigen, mehr noch das Zusehen, oft sogar das hämische Grinsen, weil der Raubmord am jüdischen Volk gesellschaftsfähig war. Die historischen Ereignisse wach halten ist aber nur die eine Sache, die andere ist, der gequälten und verschleppten und Ermordeten zu gedenken. Erinnerung und Gedenken sind nicht identisch. Historische Betrachtung bleibt abstrakt, Zahlen und Fakten können Distanz schaffen, aber darum geht es nicht - auch heute Abend nicht. Es geht im Gegenteil um die Nähe zu den Betroffenen, um Empathie mit den Opfern der Gewalt, das Herankommenlassen des unfassbaren Schreckens, weil es uns - oder besser - bis es uns unmittelbar angeht, um einen Ausdruck des Theologen Paul Tillich zu verwenden. Und dies jenseits einer individuellen Schuld oder Unschuldsfrage, sondern im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen historischen Verantwortung, die wir besitzen und auch als nachgeborene Deutsche immer besitzen werden. Damit Auschwitz sich nicht wiederhole, lautet die Forderung, damit das "Nie Wieder" uns Deutsche dauerhaft erreicht und gesichert bleibt. Denn das wird darüber entscheiden, ob wir eine freie, tolerante offene Gesellschaft bleiben oder nicht. Es wird entscheiden, welchen Weg die deutsch-jüdischen Beziehungen in Zukunft nehmen werden, und es wird darüber entscheiden, wie die Menschenrechte Freiheit, Menschlichkeit und Toleranz die Grundsubstanz unserer demokratischen, zivilisierten Gesellschaft bleiben werden. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir zugehört haben. (Pfarrer Dr. Gernot Schulze-Wegener, Rauschenberg)
zum Artikel in der OP vom 07.09.2007
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