Besuch ehemaliger ZwangsarbeiterInnen aus Polen im Oktober 2004
Nach dem Besuch von ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern
2003 in Marburg hatte die Geschichtswerkstatt im Oktober 2004 ehemalige polnische
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingeladen.
Unter den 14 Gästen, die jeweils mit einer Begleitperson gekommen waren, befanden
sich sieben Personen, die als Kinder mit zur Zwangsarbeit nach Marburg verschleppt
worden waren oder hier geboren sind.
Die Gruppe erwies sich als besonders herzlich und aufgeschlossen. Der Kontakt zu den
Schülerinnen und Schülern, die den Besuch begleiteten, war unverkrampft.
Die Besucher nutzten die Möglichkeit, die ehemaligen Arbeitsstätten oder ihre
Geburtsorte aufzusuchen. Alle hatten noch Fotos und Dokumente aus der Zeit in
Deutschland dabei.
Die polnischen Zwangsarbeitskräfte waren in Marburg vor allem im Privathaushalt,
im Handwerk und in der Landwirtschaft eingesetzt.
Ein kennzeichnendes Schicksal hat Anna Betlej, die als 16-Jährige 1943 nach Marburg
verschleppt worden war. Sie musste als Hausgehilfin in einem Privathaushalt arbeiten.
Der Kontakt zu den Familienmitgliedern sei recht gut gewesen, nur die Großmutter habe
sie schikaniert. Zum Kriegsende wurde Anna Betlej zur Arbeit in den Rüstungswerken in
Allendorf, nahe Marburg, gezwungen. So erging es auch der eingeladenen Wladyslawa
Szymczak und Henryka Marciniak. Die zuletzt genannte war zuvor im Haushalt eines
Marburger Frauenarztes als Kindermädchen und Haushilfe tätig gewesen.
Besuche der ehemaligen Arbeitsstätten konnten nur ganz individuell organisiert
stattfinden. Umfangreiche Recherchen im Vorfeld des Besuches durch den damaligen Vorsitzenden
der Marburger Geschichtswerkstatt, Walter Bernsdorff, hatten ergeben, dass direkt
Betroffene nicht mehr lebten. Die Nachkommen zeigten sich aber ausnahmslos interessiert
an Treffen mit den polnischen Gästen.
Der zweite Besuchstag, an dem der Nachmittag programmfrei gehalten worden war, wurde
von den Gästen für Besuche der Arbeitsstätten genutzt. Die Marburger, die sich
ehrenamtlich als Begleitpersonen zur Verfügung gestellt hatten und zum Großteil
polnisch sprechen, machten die Besuche möglich.
Es kam zum Beispiel zu einem gemeinsamen Mittagessen bei den Nachkommen der Metzgerei
Albrecht, bei der der eingeladene Tadeusz Mieruszewski gearbeitet hatte. Auch einige
Schülerinnen und Schüler waren bei dem Essen dabei.
In einem anderen Fall wurde das Grab der ehemaligen "Chefin" besucht.
Das Diakonie Mutterhaus in Wehrda spielt für Frau Cwikla eine ganz besondere Rolle.
Frau Cwikla war mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern dorthin verschleppt worden.
Sie hatte bei ihrem Besuch in Marburg eine alte Broschüre der Einrichtung bei sich.
Die darin abgebildeten Fotos hatte sie oft mit ihrer Mutter angeschaut, und es bedeutete
ihr sehr viel, die Gebäude zu besichtigen.
Der Vormittag des zweiten Besuchstages wurde dafür genutzt, die Erinnerungen an Marburg
in gemeinsamen Gesprächen wieder aufleben zu lassen. Die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen
und Zwangsarbeiter trafen sich in den Räumen der Geschichtswerkstatt. Sie befinden sich
in dem Gebäudekomplex der ehemaligen Tabakfabrik Niderehe. Die eingeladene Wladyslawa
Szymczak hatte dort im Krieg als Häftling arbeiten müssen.
Zu der Gesprächsrunde waren Mitglieder der Geschichtswerkstatt, die Marburger
Begleitpersonen und ein Teil der beteiligten Schülerinnen und Schüler gekommen.
Bernhard Rosenkötter, damaliger 2. Vorsitzender der Geschichtswerkstatt, sprach einleitende Worte.
Er wies darauf hin, dass es oft problematisch sei, die leidvolle Zeit in Deutschland in
ihren vollen Ausmaßen zu erzählen, während man nun zu einem "netten" Aufenthalt eingeladen
worden sei. Diese Worte zeigten Wirkung: Aus einigen Gästen brachen die leidvollen
Erfahrungen geradezu heraus. Sie erzählten sehr eindrücklich von erlebter Gefahr und
Demütigungen. Es zeigte sich in dieser Gesprächsrunde, dass manche Gäste das Erlebte
durch die Erzählungen zu verarbeiten suchten, andere aber lieber schwiegen.
Die Gruppe der in Marburg geborenen Kinder der Zwangsarbeitskräfte oder der als Kind
verschleppten traf sich parallel in der katholischen St. Johannes Gemeinde (Kugelkirche).
Frau Gronska wurde dort getauft und es bedeutete ihr ungeheuer viel, den vorhandenen
Taufeintrag mit eigenen Augen zu sehen.
Das Gespräch dort wurde von der Stadtverordneten Eva Gottschaldt moderiert. Ein Teil der
beteiligten Schülerinnen und Schüler war ebenfalls dort. Eingeleitet wurde das Gespräch
mit einer gemeinsamen Andacht.
Die geführten Gespräche in beiden Gruppen hatte viele Emotionen an die Oberfläche gebracht.
Ein Besuch des Schlosses bei gutem Wetter bildete daher einen befreienden und versöhnlichen
Abschluss an diesem Tag.
Der Besuch der polnischen Gruppe wurde von Klassen der Richtsberg-Gesamtschule und der
Theodor-Heuss-Schule begleitet. Die von den Schülerinnen und Schülern geführten Interviews
verarbeiteten sie zu einer szenischen Lesung, die Anfang 2005 im Theater Am Schwanhof mit
viel Erfolg gezeigt wurde.
Fotos vom Besuch ehemaliger ZwangsarbeiterInnen aus Polen im Oktober 2004
Begrüßungstränen im Hotel in Posen: Wladyslawa Szymczak und Henryka Marciniak
hatten sich bereits bei ihrer Zwangsarbeit in Marburg kennen gelernt. Von
Posen wurden die Gäste mit dem Bus nach Marburg gebracht.
Vor der Marburger Frauenklinik: Für Anna Grabczewska und Krystina Wieckowska
ist es von besonderer Bedeutung, den Ort ihrer Geburt kennen zu lernen.
Empfang im Marburger Rathaus.
Besuch der polnischen Gäste in den Räumen der Marburger Geschichtswerkstatt. Sie befinden sich in
der ehemaligen Tabakfabrik Niderehe, in der die mitgereiste Frau Szymczak Zwangsarbeit
leisten musste. In offener Gesprächsrunde erzählten die Gäste in Gegenwart
der Schülerinnen und Schüler über ihre Zwangsarbeit in Marburg.
Besichtigungstour zum Marburger Schloss. Henryka Marciniak lässt sich von
ihrer Tochter fotografieren. Wichtig für sie: Im Hintergrund ist das Haus des Frauenarztes,
in dem sie als Hausgehilfin arbeiten musste, zu sehen.
Die Mitglieder des Vereins "Fröhlicher Kreis" aus Cölbe boten den polnischen
Gästen hessische Folklore.
Die katholische Gemeinde Amöneburg hatte die polnischen Gäste eingeladen und Pfarrer
Klatt gestaltete einen Gottesdienst. Der Besuch wurden mit Glockengeläut
begrüßt. Die Frauen der Gemeinde hatten ein reichhaltiges Kuchenbüfett vorbereitet.
Kranzniederlegung bei den Gräbern von Zwangsarbeitern auf dem Marburger Hauptfriedhof.
Die Schülerinnen und Schüler waren von der Herzlichkeit der Besucher beeindruckt.
Wojciech Sroka, dessen Eltern in Marburg arbeiten mussten, ist leider bereits
mit nur 60 Jahren kurz nach seinem Besuch in Marburg verstorben. Wir erinnern
uns gerne an ihn.
Zur szenischen Lesung im Theater am Schwanhof am 12. Januar 2005 waren rund
100 Zuschauer gekommen. Der damalige Bürgermeister Egon Vaupel sprach als Schuldezernent
einige Begrüßungsworte. Beate Flechtker, die das Projekt als Theaterpädagogin
begleitet hat, führte in die Thematik ein und die Lehrerin der Richtsberg-Gesamtschule,
Christa Ritter, betonte die Bedeutung der Begegnungswoche für das Geschichtsverständnis
ihrer Schüler. Konzentriert und mit viel Respekt vor den Schicksalen lasen die
Schülerinnen und Schüler aus den Lebensberichten. Im Foyer des Theaters hatten die
Schüler eine kleine Ausstellung mit Fotos und den wichtigsten Lebensdaten der polnischen Gäste
zusammengestellt.
|