Geschichtswerkstatt Marburg e.V.    Forschung für Regional- und Alltagsgeschichte

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Ausgebeutet, ignoriert, verdrängt, geleugnet 
- oder doch nicht? 
"AG Zwangsarbeit in Marburg 1933 - 1945"

Wolfgang Form, Albrecht Kirschner, Thomas Werther

80 Kilometer von Marburg entfernt, in Kassel, bekräftigte das Bundesarbeitsgericht im September 1999 erneut, es sei nicht zuständig! ZwangsarbeiterInnen des Nationalsozialismus hätten keinen Lohn oder so wenig Geld erhalten, daß in ihrer Zwangsarbeit kein privatrechtlicher Vertrag erkannt werden könnte. Und die Bundesregierung hält ihre Hand schützend über Konzerne, die vor mehr als 50 Jahren Millionengewinne aus Zwangsarbeit zogen, und die letzten Überlebenden nunmehr einem Stiftungsvolumen von nicht einmal 3 Milliarden DM abspeisen wollen. Die Schäbigkeit kennt keine Grenzen!

Nachdem vor einigen Jahren unter maßgeblicher Beteiligung der Geschichtswerkstatt Marburg die Zwangsarbeit in den (Stadt-)Allendorfer Rüstungsbetrieben aufgearbeitet wurde, fanden sich Anfang 1999 wiederum einige Geschichtswerkstättler, die sich vornahmen, die Zwangsarbeit im ehemaligen Kreis Marburg und der kreisfreien Stadt Marburg zu erforschen. Ein erster Blick in die Archive bestätigte die Vermutung: massenhaft liegt Material bereit, um den (ehemals) Entrechteten wieder ein Stück ihrer Würde zurück zu geben.
Sowohl die alliierte "Ausländer Such-Aktion" von 1945/6, als auch Verwaltungsakten der staatlichen und kommunalen Behörden u.v.a.m. geben dem Vorhaben eine so breite Basis, daß wir uns entschließen mußten, eines nach dem anderen zu tun: anfangen wollen wir mit der Erforschung der Zwangsarbeit auf dem Gebiet der damaligen Stadt Marburg.

Haben sie schon gewußt, daß es in Marburg zwischen 1941 und 1945 mindestens 5 Kriegsgefangenenlager gab? ... daß im Zweiten Weltkrieg die Müllabfuhr von französischen Kriegsgefangenen erledigt wurde? ... daß (fast) alle Betriebe, HandwerkerInnen, Institutionen Marburgs förmlich nach ZwangsarbeiterInnen schrien? ... daß es Planungen gab, im Wilhelmsturm(!) ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene einzurichten? ... daß zwischen 1939 und 1945 weit mehr als 5.000 ZwangsarbeiterInnen in Marburg medizinisch behandelt wurden? - Im Zweiten Weltkrieg waren ZwangsarbeiterInnen in Marburg überall anzutreffen. Vier von der nationalsozialistischen Administration unterschiedene Gruppen sind zu nennen: Kriegsgefangene, zivile ZwangsarbeiterInnen (meist aus Polen und der Sowjetunion), KZ-Häftlinge oder (polnische) Strafgefangene, von denen es in Marburg nach heutiger Kenntnis nur aus den ersten beiden Gruppen Menschen gab. Die Komplexität des Themas Zwangsarbeit zeigt sich hierbei an vier unterschiedlichen administrativen Verfahren zur Zwangsarbeit und wird natürlich auch dadurch vergrößert, daß einerseits der Arbeitsort (in der Industrie, Landwirtschaft oder Privathaushalten) die Situation entscheidend beeinflussen konnte, wie auch das jeweilige Verhalten der "ArbeitgeberInnen" und deutschen KollegInnen. Zu den genannten Gruppen kamen bis zu ihrer Deportation noch jene jüdischen Männer, die in den Ghettohäuser wohnen mußten.

Neben Forschungserfahrungen einzelner Geschichtswerkstattsmitglieder zum Themenkomplex kann die AG auf weitere Vorarbeiten zurückgreifen: Forschungen und Akten zu den Behringwerken, zu Widerstand und Verfolgung in Marburg und zum Marburger Kriegsgericht seien erwähnt.
Bei den ersten Schritten in Archiven, bei den ersten Ansätzen der Projektplanung hat sich eine überaus erfreuliche Zusammenarbeit nicht nur mit dem Marburger Stadtarchiv (Dr. Hussong) und dem Staatsarchiv ergeben. Das läßt hoffen, daß auch andere regionale Institutionen, wie z.B. das Arbeitsamt und die AOK, sich ebenso kooperativ zeigen werden.
Eine nicht unerhebliche Grundlage und Ergänzung unserer Forschungen ist die Erforschung des Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlagers in Ziegenhain (Stalag IX A) durch Karin Brandes in Schwalmstadt. Hier zeigt sich, daß schon bei der Erforschung regionaler Zusammenhänge, der Blick Überregionales eine notwendige Ergänzung ist. In diesem Sinne wollen wir im Rahmen des Projektes versuchen, mit ehemaligen ZwangsarbeiterInnen und/oder deren Selbstorganisationen in Frankreich, Italien, Polen und der ehemaligen Sowjetunion Kontakt aufzunehmen, sie - wie auch Marburger ZeitzeugInnen - zu befragen, um so die damalige Zustände exakter fassen zu können.

Natürlich weist ein solches Projekt von vornherein auf das leidige Thema der Finanzierung hin. Wir setzen hierbei nicht nur auf kommunale und regionale Einrichtungen, sondern werden uns u.a. mit dem Land Hessen (z.B. der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung) und der Europäischen Union in Verbindung setzen.

Es wäre ein überaus schönes und zufriedenstellendes Ergebnis des Projektes, wenn neben möglichen Buch- und Aufsatzpublikationen etc. auch ein offizielles Treffen mit den noch lebenden (ehemaligen) ZwangsarbeiterInnen Marburgs finanziell keine Frage wäre. Dann könnte gezeigt werden, daß trotz aller die entwürdigenden Taten tradierenden juristischen Spitzfindigkeiten, kapitalistisch-knausriger Profitsucht und engstirnigem "Standorts-Gerede" es in Marburg möglich wurde, den (noch) lebenden ZwangsarbeiterInnen zumindest ein Stück ihrer Menschenwürde zurück zu geben.

 

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