Geschichtswerkstatt Marburg e.V.    Forschung für Regional- und Alltagsgeschichte

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Aktivitäten der Marburger Geschichtswerkstatt in Aufsätzen und Bildern

 

Gedenken auf dem Marburger Hauptbahnhof am 6. September 2017

Am 6. September vor 75 Jahren wurden fast alle noch in Marburg und im Landkreis lebenden Jüdinnen und Juden in einem dritten Deportationszug in das Ghetto Theresienstadt verschleppt. Nur wenige von den Verschleppten überlebten.

Seit 2002 erinnert die Geschichtswerkstatt auf dem Bahnhof an diesen Tag und an die beiden vorhergehenden Deportationen in das Ghetto Riga und in das Todeslager Sobibor.

Schülerinnen der Richtsberg-Gesamtschule verlasen Namen der Deportierten.

Besonders bewegend war diese Gedenkstunde, da Angehörige der Opfer aus Großbritannien und Israel gekommen waren. Für sie ist es von großer Bedeutung, dass an Ihre Verwandten gedacht wird, dass ihr Name genannt werden, dass sie nicht vergessen werden und vor allem, dass das Unrecht, was ihnen angetan wurde, nicht in Vergessenheit gerät.

Aus Jerusalem waren Gad Nathan und seine Tochter Eilat angereist. Sie gedachten ihrer Groß- beziehungsweise Urgroßeltern Hermann Nathan I. und Bertha geb. Heß und deren jüngster Tochter Betty Nathan. Die Familie Nathan lebte seit Generationen in Lohra und wurden in der NS-Zeit nach Marburg vertrieben und von hier aus deportiert. Auch Germaine Sharons Großvater, Hermann Nathan II. stammt aus Lohra. Er musste 1940 nach Frankfurt am Main ziehen und wurde von dort mit seiner Tochter Gretel Nathan nach Minsk verschleppt und ermordet. Seine Frau war zuvor im Jüdischen Krankenhaus in Frankfurt am Main gestorben. Die beiden Lohraer Familien haben wieder Kontakt zu ihrer alten Heimat aufgenommen und so war es besonders erfreulich, dass auch der Lohraer Bürgermeister Georg Gaul an der Gedenkstunde teilnahm. Es liegen bereits Stolpersteine für Hermann Nathan I. seine Frau Bertha geb. Heß und ihre Tochter Betty Nathan. Im Oktober 2018 werden auch für die Vorfahren von Germaine Sharon Stolpersteine gesetzt.

Der Bürgermeister von Lohra, Georg Gaul, und Gad Nathan besprechen die Möglichkeit von Gedenkbäumen für die jüdische Bevölkerung Lohras. Foto: privat

Gina Burgess Winning gedachter ihrer Großeltern Willy und Bertha Freudenthal und ihres Onkels Ernst Freudenthal. Sie stammen aus Laisa, mussten in der NS-Zeit nach Marburg ziehen und wurden ebenfalls von Marburg aus deportiert und ermordet. Für sie liegen seit 2010 Stolpersteine in Laisa.

Der Marburger Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies und Burkhard zur Nieden, Dekan des Evangelischen Kirchenkreises Marburg, gemahnten an die Verantwortung der heutigen Generation. Traditionell sang Amnon Orbach von der Marburger Jüdischen Gemeinde das Kaddisch, das Totengebet.

Von links: Germaine Sharon, Gina Burgess Winning, Gad Nathan, Barbara Wagner von der Geschichtswerkstatt und die Erste Vorsitzende der Geschichtswerkstatt Elisabeth Auernheimer. Das Verlesen der Namen der Ermordeten und Verschleppten mitten im Betrieb der ankommenden und abfahrenden Züge ist besonders eindrücklich. Foto: privat

Gad Nathan richtete sich in sehr persönlichen Worten an die Anwesenden.

Verehrte Gäste und teure Freunde! Ich möchte Sie herzlich begrüßen. Mein Name ist Gad Nathan. Ich komme aus Jerusalem, aber die Heimat meines Vaters war Lohra. Meine Großeltern Hermann Nathan I. und Bertha geb. Heß und meine Tante Betty wurden von hier aus, vom Bahnhof Marburg, in den Tod geschickt.

Unter den Gästen befindet sich heute auch der Bürgermeister von Lohra, Herr Georg Gaul. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind!

Erneut stehen wir heute auf dem Bahnsteig, von dem aus heute vor fünfundsiebzig Jahren unsere Verwandten verschleppt wurden. Wir erinnern an sie, damit sie nicht vergessen werden - all jene Ermordeten aus Marburg und den Ortschaften der Umgebung.

Ich möchte an die drei Transporte von Juden aus Marburg in die Gaskammern, Konzentrationslagern und Ghettos erinnern:
Der erste Transport ging ins Ghetto Riga. Aus Marburg wurden 43 Juden deportiert, aus der Umgebung 84 Juden. Nur 9 Personen kamen mit dem Leben davon. Der zweite Transport ging in das Vernichtungslager Sobibór. Aus Marburg waren es 25 Juden, aus der Umgebung 34 jüdische Frauen, Männer und Kinder. Keiner aus diesem Transport wurde gerettet. Der dritte Transport fand genau heute vor 75 Jahren statt und ging in das Ghetto Theresienstadt, mit 43 Juden aus der Stadt und 36 aus der Umgebung. Nur 9 Personen überlebten. Ich habe mir einmal die Geschichte der Juden in Marburg angeschaut.

Seit wann lebten überhaupt Juden in Marburg? Ich fand heraus, dass es bereits im Jahre 1317 Juden in einem Judenviertel gab. Sie hatten auch eine Synagoge, die SCULA JUDAEORUM.

Im Jahre 1452 wurde die Synagoge abgerissen und die Steine zum Bau einer Stützmauer für den christlichen Friedhof verwendet.

1776 lebten in Marburg acht jüdische Familien. 1818 gab es eine kleine Synagoge und Rabbiner der Gemeinde war Moscheh (Moses) Solomon Gosen.

1897 wurde eine neue repräsentative Synagoge gebaut, teilweise im byzantinischem Stil, mit 230 Plätzen für Männer und 175 Plätzen für Frauen.

1867 eröffnete die Gemeinde eine jüdische Grundschule. Zu den Institutionen der Gemeinde gehörte auch eine Organisation für gegenseitige Hilfe und eine für religiöse Akademiker. Im Ersten Weltkrieg fielen elf jüdische Soldaten aus Marburg und Umgebung.

Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts gab es zwei jüdische Dozenten an der Universität Marburg, die aber als Juden keinesfalls gleichberechtigt waren.

Dr. Hermann Cohen begründete an der Universität die Schule des Neukantianismus und einer seiner Studenten war der Schriftsteller Boris Pasternak. An der Universität lehrte auch Professor Abraham Fraenkel Mathematik, der später in Israel lehrte.

1933 gab es in Marburg 350 Juden. Nach 1933 sank deren Zahl bis 1938 auf 149.

Am 9./10. November 1938, in der verharmlosend als Kristallnacht bezeichneten Pogromnacht, verbrannte die Synagoge. Heute ist dort der Garten des Gedenkens mit einem Model des Gotteshauses. Nach dem Zweiten Weltkrieg befanden sich etwa 250 bis 300 jüdische Flüchtlinge in Marburg, die die Stadt bald wieder verließen.

Vor dem Krieg arbeiteten Juden als Akademiker, in der Landwirtschaft und im Handel. So auch mein Großvater Hermann, den ich nicht kennen lernen konnte, der ein Manufakturengeschäft in Lohra führte. Er war wie sein Vater Solomon in Lohra geboren, der auf dem Friedhof in Lohra begraben liegt.

Ich frage Euch: Was hatten mein Großvater Hermann Nathan, der Achtundsechzigjährige, meine Großmutter Bertha, die Siebenundsechzigjährige und meine 24-jährige Tante Betty verbrochen? Sie waren in Lohra zur Welt gekommen, haben dort gelebt und schwer gearbeitet. Meine Großeltern hatten acht Kinder, drei wurden in der Shoa ermordet und fünf überlebten: Lilly, Irene, Sally, Kurt und mein Vater Theodor.

Sie waren wunderbare Menschen, ebenso wie diejenigen, deren Namen gleich vorgelesen werden. Ihr einziges Vergehen war, dass sie Juden waren.

Verschleppt wurden zum Beispiel die siebzehnjährige Marion Reis ebenso wie die sechsundachtzigjährige Johanna Oppenheim, die in die Gaskammern geschickt oder auf andere Weise ermordet wurden.

Heute stehen wir hier und drücken damit aus, dass wir uns an die Geschehnisse erinnern und nicht wollen, dass sie sich jemals wiederholen.

Wir sind heute hier, werte Gäste, weil die Freiwilligen der Geschichtswerkstatt Marburg unter dem Vorsitz von Frau Elisabeth Auernheimer dieses Gedenken jedes Jahr ausgestalten. Die frühere Synagoge in Roth, getragen durch den Arbeitskreis Landsynagoge Roth e.V., dient heute als Begegnungsstätte, auch für Schulkinder. Sie erfahren von der Shoa und lernen die Geschichte der Juden kennen, die dort gewohnt haben. Die Geschichtswerkstatt und der Arbeitskreis Landsynagoge Roth haben in den vergangenen Jahren zahlreiche Kontakte zu überlebenden und Nachkommen der Ermordeten ermöglicht. So stehe ich hier, in diesem Jahr mit meiner Tochter Eilat, ebenso wie mit Germaine, der Enkelin von Hermann Nathan II. aus Lohra und Gina, der Enkelin von Willy und Bertha Freudenthal aus Laisa.

Unsere Angehörigen sollen nicht vergessen werden!

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